Gebären im Operationssaal – Der Kaiserschnitt und eine Narbe als Chance
„Meine Narbe – Ein Schnitt ins Leben“, so heißt der Dokumentarfilm, den Judith Raunig und Mirjam Unger gemeinsam realisiert haben. Zu Wort kommen Frauen, deren Kind per Kaiserschnitt geboren wurde: sie erzählen mutig und offen von ihren Gefühlen, oftmals enttäuschten Erwartungen rund um die Geburt und traumatischen Folgeerscheinungen. Aber nicht nur die jungen Mütter, auch Väter geben Einblick in ihr persönliches Erleben. BabyForum.at hat mit Judith Raunig, Klinische- und Gesundheitspsychologin, über steigende Kaiserschnittraten, Unterstützung nach einer Schnittentbindung und selbstbestimmtes Gebären gesprochen.
BabyForum: Beginnen wir mit den Fakten. In den vergangenen 10 Jahren hat sich die Zahl der Kaiserschnitte in Österreich verdoppelt, mittlerweile erblickt jedes dritte Kind per Schnittentbindung das Licht der Welt. Warum?
J. Raunig: Für diese Entwicklung sind mehrere Faktoren verantwortlich. Aber gleich zu Beginn: dass die Mütter heute älter sind, die Kinder größer oder schwerer, ist nicht entscheidend. Auch ist es ein Mythos, dass sich so viele Frauen heutzutage einen Kaiserschnitt wünschen würden.
Eine große Rolle spielt sicher das Zusammenwirken von verunsicherten Frauen, abnehmender geburtshilflicher Kompetenz und der sogenannten „Logistik“ im Spital, denn ein leerer OP kostet Geld. In einer groß angelegten deutschen Studie konnte 2012 gezeigt werden, dass das unterschiedliche Vorgehen der GeburtshelferInnen bei relativen Indikationen (also Kaiserschnitten, die nicht unbedingt sein müssen) ausschlaggebend ist. Daraus ergibt sich eine hohe Schwankungsbreite der Raten zwischen den Spitälern: da gibt es Häuser mit weniger als 20% Kaiserschnitten und andere, die haben dreimal soviele Kaiserschnitte vorzuweisen. Als Frau weiß ich das aber meist nicht, bevor ich mich für ein Spital entscheide.
BabyForum: Steigende Kaiserschnittrate, mehr Sicherheit, glückliche Mütter, zufriedene Krankenkassen – geht die Rechnung auf?
J. Raunig: Nein, absolut nicht. Zuerst ist zu sagen, dass mehr Kaiserschnitte nicht zu mehr Sicherheit und mehr gesunden Babys führen, sondern dass das Gegenteil der Fall ist: gibt es keine Indikation, ist die natürliche Geburt immer noch die gesündeste Variante der Geburt - sowohl für die Mutter als auch das Kind. Die WHO geht davon aus, dass ungefähr 10-15% der Kaiserschnitte notwendig sind. Länder mit sehr hohen Kaiserschnittraten haben auch keine geringere Säuglingssterblichkeit vorzuweisen. Zweitens hinterlässt ein Kaiserschnitt bei weitem seltener eine glückliche, gestärkte Mutter als allgemein propagiert.
Was die Kosten betrifft, wird sehr oft kurzsichtig berechnet, argumentiert und gemeint eine Schnittentbindung wäre günstiger. Denn ein Kaiserschnitt, der in der Regel in 1-1,5 Stunden erledigt ist, bindet weniger zeitliche Ressourcen im Krankenhaus als eine natürliche Geburt, die sich möglicherweise über 10 Stunden ziehen kann. Sämtliche Kosten durch Folgeerkrankungen, die durch eine Sectio bei Mutter und Kind entstehen, werden allerdings nicht einberechnet.
BabyForum: Brechen wir mit einem Tabu: es ist nicht unbedeutend, wie wir gebären und ein Kaiserschnitt (ob geplant oder ungeplant) wird von vielen Frauen als belastend erlebt. Welche Auswirkungen hat das für Betroffene? Und warum sollten wir es viel öfter zum Thema machen?
J. Raunig: Ein Kaiserschnitt hinterlässt leider sehr oft nicht nur eine körperlich, sondern auch eine psychisch geschwächte Frau. Neben einer Narbe am Bauch bleiben dann Gefühle wie Schuld, Scham, Enttäuschung, Traurigkeit und Wut zurück. Sehr häufig haben Frauen, die unter einer Vollnarkose geboren haben, das Gefühl, den wichtigsten Moment „verpasst“ zu haben. Auch ergeben sich häufig anfängliche Bindungsschwierigkeiten mit dem Kind. Ich höre viele Mütter sagen: „Sie hätten mir danach irgendein Kind bringen können.“ Frauen geben sich meist selbst die „Schuld“ für die enttäuschende Geburt- nach dem Motto: „Ich habe mich zu wenig angestrengt, sonst hätte ich das doch geschafft.“
Über die eigenen Gefühle zu sprechen, ist aber nach wie vor noch nicht Usus und so ziehen sich die Frauen damit meist zurück, mit dem Gedanken „Alle anderen kommen mit dem Kaiserschnitt klar, nur ich nicht“. Was die psychischen Auswirkungen der Sectio betrifft, braucht es hier also noch enorme Enttabuisierung, um Frauen Mut zu machen, ihre Gefühle wahr- und anzunehmen und so einen ersten wichtigen Schritt in Richtung psychischer Heilung gehen zu können.
BabyForum: Sie bieten bei Ihren Kaiserschnitt-Seminaren auch einen freiwilligen Gesprächskreis für Männer/begleitende Väter an. Wie ist die Resonanz?
Wenn schon Frauen wenig über die ambivalenten oder negativen Gefühle rund um die Geburt sprechen, kann man sich vorstellen, wie wenig es erst Männer tun.
In einer Väterrunde erstmals zu erleben, dass andere Väter ähnliche Sorgen, Gedanken, Fragen und Gefühle haben, ist für viele Männer eine sehr befreiende und hilfreiche Erfahrung. Üblicherweise wird ein Vater nach der Geburt gefragt: „Bub oder Mädchen? Wie heißt es? Wie schwer ist es? Und wie groß? Schläft es denn brav?“. Für die Emotionen des Vaters interessiert sich in der Regel niemand.
Die Reflexion der eigenen Gedanken und Gefühle im Kreise des eigenen Geschlechts ist für viele Männer eine ganz neue und wichtige Erfahrung, die auch das Verständnis gegenüber der eigenen Frau enorm fördern kann. Immer wieder höre ich dann am dritten und letzten Tag des Seminars, dass das Paar zum ersten Mal „so richtig“ über die Geburt sprechen konnte und vieles in nur kurzer Zeit wieder aufgelöst werden konnte.
BabyForum: „Sich Hilfe holen“ – in der Theorie ein gut gemeinter Rat, in der Praxis für viele Betroffene ein schwerer Schritt. Und dennoch, warum ist die Aufarbeitung eines derartigen Geburtstraumas so wichtig?
J. Raunig: Hat eine Frau eine Geburt erlebt, die unaufgelöst ist, ist das wie ein Rucksack, den sie in die zweite Geburt mitnimmt. Er sitzt ständig am Rücken, beschwert, raubt Kraft und hindert die Frau daran, sich frei zu bewegen. War die erste Geburt traumatisch, steckt die Erinnerung sozusagen noch im Körper fest. Das Problem ist nun, dass die Erinnerung und die damit verbundene Belastung durch harmlose Auslöser in der Folgegeburt zum Leben erweckt werden kann. Hat eine Frau also zum Beispiel große Ängste im OP erlebt, kann es sein, dass sie alleine durch das grüne Gewand der Hebamme oder den Geruch des Desinfektionsmittels in Panik verfällt, auch wenn die zweite Geburt gerade ganz normal verläuft. Jedes unverarbeitete Trauma hinterlässt eine Lücke in der Psyche, um die sich der Mensch ständig- bewusst oder unbewusst kümmern muss. Ist das Erlebnis aufgearbeitet, wird diese Energie wieder frei und ist für andere Dinge verfügbar.
BabyForum: Warum fällt es vielen Frauen schwer, sich als selbstbestimmte Akteurinnen bei der Geburt zu sehen?
J. Raunig: Ich denke, dass immer mehr Schwangere verunsichert sind und wenig Vertrauen in den eigenen Körper und die eigenen Fähigkeiten haben. Dabei spielen sicher die Informationsflut durch das Netz eine Rolle, sowie der Umstand, dass eine Geburt in den letzten Jahrzehnten zu einem potentiell gefährlichen Ereignis gemacht worden ist - vom eigenen Wohnzimmer wurde sie in das Krankenhaus verlegt. Dort gilt eine Geburt als „sicher“, weil es viele medizinische Geräte gibt, die im Ernstfall eingesetzt werden können, sowie viele Menschen, die der Frau „helfen“, das Kind zu bekommen. Mädchen und junge Frauen wachsen heute ohne Vorbilder auf, die sagen: „Klar kannst Du das! Du und Dein Baby, ihr schafft das ganz alleine!“
BabyForum: In einem Interview mit der Tageszeitung „Die Presse“ aus dem Jahr 2012 zitieren Sie die Hebamme Brigitte Meissner. Inwieweit ist also „Geburt auch ein Schicksal“?
J. Raunig: Ich meine damit, dass Geburt genauso wenig planbar und vorhersehbar ist wie das Leben selbst. Und ich denke, dass das sehr gut so ist. Auch wenn ich vieles in der Vorbereitung tun kann, das die Wahrscheinlichkeit für eine natürliche Geburt erhöht, gibt es doch nie eine Garantie und trotz der besten Unterstützung, kann es ganz anders kommen als gedacht. Das meine ich dann mit „Geburt ist auch Schicksal“.
Wichtig ist allerdings nicht, was ist mir passiert - sondern was habe ich daraus gemacht.
Und da bin ich überzeugt, dass jedes Schicksal positiv genutzt und letzten Endes zu einem stärkenden Lebensereignis werden kann - auch wenn es manchmal dafür eine externe Unterstützung braucht.
BabyForum: Hebammen, ÄrztInnen und Fachpersonal – was kann man auf institutioneller Ebene verbessern?
J. Raunig: Ich denke, dass GeburtshelferInnen oft selbst unter unzufriedenstellenden Bedingungen arbeiten: Eine 1:1 Betreuung durch die Hebamme würde sicherlich einiges ändern und ÄrztInnen müssten schon in der Ausbildung auf Besonderheiten (wie Beckenendlage, Zwillinge, status post sectio…) gut geschult werden. Wichtig erscheint mir auch, dass Ärztinnen und Hebammen keinem unüberschaubaren Haftungsrisiko ausgesetzt sind. Dies lässt sich einerseits durch Versicherungen oder gesetzliche Regelungen erreichen, die das Haftungsrisiko von Einzelpersonen minimieren. Andererseits ist die Rechtssprechung in diesem Bereich auch gefordert, es nicht zu „amerikanischen Verhältnissen“ kommen zu lassen. Es darf nicht dazu kommen, dass medizinisches Fachpersonal aus Angst vor dem Gericht sofort zur ultima ratio, dem Kaiserschnitt, tendiert. Rechtlich müsste es eine Regelung geben, dass im Schadensfall eine GeburtshelferIn nicht persönlich belangt werden darf, sodass er/sie sich nicht vor Klagen fürchten muss.
BabyForum: Der Kaiserschnitt polarisiert, die einen sind strikt dafür, die anderen strikt dagegen. Sie fordern mehr Aufklärung zum Thema Kaiserschnitt und seinen Folgen. Zum anderen bestärken sie Frauen, ihre Geburt den Möglichkeiten entsprechend selbstbestimmt zu gestalten, Erstgebärende gleichermaßen wie Frauen nach einem Kaiserschnitt. Nehmen wir an, man ersetzt das Streben nach Planbarkeit durch Menschlichkeit und die Routine durch gelebte Verantwortung – ist die Geburtshilfe dann auf dem richtigen Weg?
J. Raunig: Genau. Menschlichkeit und gelebte Verantwortung erscheinen mir in diesem Zusammenhang die richtigen Tugenden zu sein.
BabyForum: Liebe Frau Raunig, vielen Dank, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben.
Gemeinsam mit Mirjam Unger hat Judith Raunig den Dokumentarfilm „Meine Narbe – Ein Schnitt ins Leben“ gedreht. Der Film wurde in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm 2014“ für die ROMY nominiert sowie für den Fernsehpreis der Erwachsenenbildung.
Weitere Informationen zu Judith Raunig und ihren Seminaren für Betroffene und Fachpersonal findest du auf der Website: nach-dem-kaiserschnitt.at
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