„Nicht von schlechten Eltern“ – Das schwierige erste Lebensjahr
Manchmal sind die ersten Wochen im Leben einer frisch gebackenen Familie ganz anders, als man es sich vorgestellt hat. Das Neugeborene ist kaum zu beruhigen, die Mutter erschöpft von der Geburt und allesamt überfordert mit der neuen Situation. Antonin Svoboda hat drei „unperfekte“ Familien durch das erste Lebensjahr hinweg begleitet – „Nicht von schlechten Eltern“ startet am 23. März 2018 in den heimischen Kinos.
Beziehungsprobleme, Schreibaby und Co.
„Das Baby ist ein spürendes Wesen, von Beginn an", damit spricht der Körperpsychotherapeut Thomas Harms einen essentiellen Aspekt an. Neugeborene nehmen die Emotionen aus ihrem Umfeld ungefiltert auf. So klein sie auch sein mögen, sie spüren sofort, wenn Mama und Papa streiten, wenn finanzielle Sorgen das Familienglück trüben oder der Start ins Familienleben alle Beteiligten heillos überfordert. Ebenso verarbeiten sie Gefühle, die sie während der Schwangerschaft und der Geburt durchlebt haben. Besonders die Entbindung ist nicht nur für die Mutter, sondern auch für das Baby eine Grenzerfahrung. Um sich mitzuteilen, nutzen Babys eine ganz eigene Sprache, die Eltern nicht auf Anhieb verstehen. Sie schreien stundenlang, wirken untröstlich, haben kurze Schlaf- und lange Wachphasen, sind permanent angespannt und bringen ihre Eltern damit an den Rand der Verzweiflung. Wenn alle Versuche, das eigene Kind zu beruhigen, scheitern, führt das zu Selbstzweifeln und Schuldgefühlen. Zur Ratlosigkeit gesellt sich dann ein Gefühl der Ohnmacht. Der Schlafmangel tut sein übriges. Der Gründer der ersten Schreiambulanz für Eltern und Säuglinge in Berlin, Thomas Harms, mahnt, diesen Zustand ernst zu nehmen. Wenn alles aus den Fugen gerät, benötigen betroffene Familien emotionale Unterstützung und professionelle Hilfe.
„Nicht von schlechten Eltern“ erzählt nun genau solche Geschichten von „unperfekten“ Familien. Von Problemen, Herausforderungen und Situationen, die überfordern. Antonin Svoboda hat drei Familien mit Neugeborenen und Kindern im Kleinkindalter über ein Jahr lang begleitet. Der Film zeigt unterschiedlichste Facetten des Familienlebens aus der Perspektive des Kindes, der Eltern und des Therapeuten (Thomas Harms), der mit den Familien arbeitet. Im Mittelpunkt der Dokumentation steht die Begleitung der therapeutischen Interventionen, stets im geschützten Rahmen und mit der gebührenden Distanz. Die Aufnahmen sind wertfrei und berührend. Die Therapiesequenzen werden durch Interviews mit ExpertInnen ergänzt. Die erfahrenen SpezialistInnen sollen dem Zuseher das Innenleben der Familienstruktur näher bringen, ebenso wie gesellschaftlich relevante Aspekte, die heutzutage auf Väter und Mütter einwirken.
Emotionelle Erste Hilfe
Der Körperpsychotherapeut Thomas Harms ist Begründer der so genannten Emotionellen Ersten Hilfe. Es handelt sich hierbei um einen therapeutischen Ansatz, der Eltern und Säuglinge in Krisenzeiten unterstützen soll. Emotionelle Erste Hilfe gilt als hilfreich bei Schlafstörungen, stundenlangem Schreien, Erschöpfungszuständen seitens der Eltern, Geburtstraumata sowie Bindungsproblemen zwischen Eltern und Kind. Mit Hilfe von Körperarbeit und Psychotherapie werden Krisensituationen entschärft und „Altlasten“ (wie beispielsweise Stress in der Schwangerschaft oder Konflikte in der eigenen Kindheit) bewältigt. Ziel ist es, die Kommunikation zwischen dem Neugeborenen und seinen Eltern zu verbessen. Sobald Mutter und Vater in ihrer Rolle angekommen sind, kann sich ein tieferes Verständnis entwickeln. Auch Kinder lernen mit der Zeit, ihre Sorgen und Nöte den Eltern mitzuteilen. Und diese wiederum, erwerben die Kompetenz, ihr Baby zu verstehen, die Signale richtig zu deuten.
Therapeut Thomas Harms hat uns zum Film noch ein paar Fragen beantwortet:
BabyForum: Wie unterscheidet sich die körperorientierte Psychotherapie von anderen Therapieansätzen?
Thomas Harms: Der Körper ist der wichtigste Bezugsort in unserer Arbeit mit Eltern und Babys. Anders als in klassischen Ansätzen der Eltern – Säugling – Psychotherapie nutzen wir auch die Körperwahrnehmung, die Atmung und spezifische Körperberührungen, um die Beziehungsbereitschaft der Eltern und Kinder zu verbessern. Eltern beobachten, z.B. in den Stresssituationen mit dem Kind, wie sich ihre Atmung verändert. Wird die Atmung flach und gespannt, ist diese oftmals ein Zeichen dafür, dass die Eltern die Nähe zu sich und dem Kind einbüßen.
BabyForum: Warum fehlt uns häufig der Mut, über Probleme und Sorgen des Familienlebens zu sprechen?
Thomas Harms: Viele Eltern haben sehr hohe - manchmal perfektionistische - Erwartungen an ihr Sein als Mutter oder Vater. Wenn dann Probleme und Unsicherheiten mit dem Kind auftauchen, bewerten die Eltern sich oftmals sehr negativ. Sie werden ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht und wollen damit auch nicht gesehen werden. Die Folge sind dann Schamreaktionen und sozialer Rückzug. Statt sich professionelle Unterstützung zu organisieren, isolieren sich dann viele Eltern und bleiben mit ihren Sorgen lieber alleine.
BabyForum: Gibt es so etwas wie ein intuitives Verständnis für die Bedürfnisse eines Neugeborenen? Und wenn ja, warum kommt es uns immer mehr abhanden?
Thomas Harms: Alle Eltern dieser Welt verfügen über intuitive elterliche Anlagen. D.h. wir haben es eigentlich im Blut, den richtigen Blickabstand zum Baby zu finden, es so im Arm zu halten, dass es sich stimmig anfühlt. Wenn ein Baby weint, werden spontan Körperprogramme im Erwachsenen aktiv, die dem Baby Trost und Beruhigung vermitteln. Heute wissen wir, dass anhaltender Stress sowie brüchige Beziehungserfahrungen in der eigenen Kindheit es erschweren, dass angehende Eltern die Bedürfnisse und Körpersprache der Babys intuitiv beantworten.
Früher haben Kinder schon in den Großfamilien ihre eigenen Geschwister betreut und auf dem Arm gehalten. Auch war es selbstverständlich, dass die jungen Eltern mit der Unterstützung ihres Säuglings nicht allein waren. Eltern, Geschwister und Großeltern haben geholfen und mit angepackt. Immer häufiger erleben wir heute junge Eltern mit ihren Babys, die aus beruflichen Gründen alleine in einer Stadt gestrandet sind. Statt sozialer Unterstützung leben viele junge Familien dann sehr isoliert und zurückgezogen.
BabyForum: Worin lagen die Herausforderungen der Familientherapiearbeit in diesem speziellen Setting?
Thomas Harms: Die besondere Herausforderung bestand darin, dass wir in den intimsten Momenten der Therapie nie alleine waren. Die Kamera war ja immer mit dabei. Es brauchte deshalb besondere Anstrengungen, um trotz dieser ständigen Beobachtung, eine Atmosphäre der Intimität und Verschwiegenheit in der therapeutischen Situation herzustellen. Ich war erstaunt, wie gut das trotz des Filmteams ging. Ich muss hier Antonin ein riesiges Kompliment machen. Er war mit seiner Kamera nie eindringend oder störend.
Was ich persönlich schwierig fand, war meine Doppelrolle. Einerseits fühlte ich mich als Therapeut für den Schutz meiner Klienten zuständig, gleichzeitig fühlte ich manchmal als Teil des Filmteams. Und aus filmischer Sicht brauchte es manchmal bestimmte Szenen, wo ich Sorgen um meine Klienten hatte, dass sie zu „nackt“ und ungeschützt gezeigt würden. Das war ein Balanceakt, der mich in der Produktion des Filmes ständig begleitete.
Informationen zum Filmstart
„Nicht von schlechten Eltern“ startet am 23. März 2018 in den österreichischen Kinos. Antonin Svoboda zeigt auf respektvolle Art und Weise, wie sich drei Familien in ihrer neuen Konstellation einfinden, welchen emotionalen Hürden sie begegnen und wie sie erkennen, was ihnen ihr Baby mittteilen will.
Regie: Antonin Svoboda / Drehbuch: Antonin Svoboda / Kamera: Antonin Svoboda, Lisa Ganser, Gabriela Schild / Schnitt: Joana Scrinzi / Ton: Thomas Pötz / Produktion: coop99filmproproduktion, Ulrich Seidl Film / Produzenten: Antonin Svoboda, Bruno Wagner, Ulrich Seidl
Österreich 2017 / 86 Minuten
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